Rückblick: Kirche rebooten - Kirchentransformation und KMU

Gut 60 Personen waren der Einladung von Sozialwissenschaftlichem Institut (SI) der EKD, Forschungsstelle Missionale Kirchen- und Gemeindeentwicklung (MKG) der Universität Halle und der KAMP gefolgt, um über die Transformationen in der Sozialgestalt von Kirche nachzudenken.

In seiner Einführung wies Gunther Schendel darauf hin, dass „reboot gut tut“. Das bedeutet den Neustart eines elektronischen Geräts oder die Neuproduktion eines alten Films oder Spiels. Auch für Kirche tut es gut, sich neu zu formieren, weil die Heilsgeschichte weitergeht. Die Zukunft hat schon längst begonnen.

 

Im Teil I wurden Projektversuche neuer Kirche als praktische Hintergrundfolie vorgestellt und die Erfahrungen konnten in Workshops mit den Teilnehmer:innen vertieft und diskutiert werden.

Dorothee von Ramm (Landsberg) stellte das Projekt Kirche reBOOTen vor, wie eine Gemeinde in ländlicher Umgebung sich kontext- und gabenbezogen neu formiert: Gemeinsam mit anderen unterwegs sein, eine sich öffnenden ländliche Kirchengemeinde entwickeln. „Kirche hat Zukunft, wenn sie keine Angst hat.“

Johanna von Büren und Tim Guttenberger zeigten für die Initiative UND Marburg—Kirche, die verbindet, wie mit experience Gottesdiensten und community weekends ein charimatisches Startup sich zwischen Kirchenkreis und Freikirche mit einem progressiven Glaubensausdruck in der Stadtgesellschaft authentisch und vielfältig entwerfen kann. „Kirche hat Zukunft, wenn Verbundenheit ermöglicht wird, mit Gott, mir selbst und den Menschen.“

Sebastian Raber stellte die HOME Base der Loretto-Gemeinschaft im Bistum Passau vor: Heimat schaffen, Jüngerschaft leben, Kirche erneuern. Ein kirchlicher Entwurf mit Jüngerschaftskurs (Akademie), Gebetshaus, Armenspeisung und Restaurant. „Kirche hat Zukunft, wenn die Beziehung zu Gott, mir selbst, zum Nächsten lebendiger, ansprechender, missionarischer wird.“

Für das Projekt „Eckstein“ in Stendal zeigte Samuel Kloft, dass sich ein Kirchenkreis mit einem Verein als Sozialunternehmen in der Plattenbauswiedlung entwickeln kann. Das Ziel ist, Kirche erlebbar machen für Menschen in prekären Lebenssituationen. Dazu werden offene Treffpunkt, Kinder-, Jugend- und Elternprogramme gestaltet, Gebet und Segen angeboten. „Kirche hat Zukunft, wenn es gelingt, die Unterschichten einzubinden.“

Die Netzgemeinde da_zwischen (Felix Goldinger, Speyer) mehrerer Bistümer und Landeskirchen ist eine digitale Community mithilfe von  Messenger-Programmen: Gottesdienste, Kommunikation und Glaubenteilen, um digitale Gemeinschaft des Glaubens zu leben. „Kirche hat Zukunft, wenn sie Kontrolle und Deutungshoheit abgibt und Gott im Da_zwischen des Alltags entdeckt.“

 

Im zweiten Teil wurden Impulse und Deutungen aus der KMU für diesen Kirchenentwicklungszusammenhang zur Verfügung gestellt.

Dr. Edgar Wunder (SI) präsentierte ausgewählte Ergebnisse aus der KMU: Die Konfessionslosigkeit nimmt schneller zu, die Kirchenmitgliedschaft ab. Das Verbundenheitsgefühl mit der jeweiligen Kirche hat sich von der evangelischen zur katholischen Kirche gewendet: Nun fühlen sich mehr Katholiken ihrer Kirche nicht mehr stark verbunden. In Süddeutschland ist die Austrittsbereitschaft höher, am wenigsten in Ostdeutschland. Möglicherweise ist schon dort der Tiefpunkt der Abwendung von Kirche vorüber, in Süddeutschland gibt es einfach noch viel mehr Kirchenmitglieder, die austreten können. Die Verbundenheit mit der Kirche bezieht sich mehrheitlich auf die lokale Ebene, ein wenig noch auf die Region. Zum Christsein gehört nach Auffassung der Mitglieder mehr das Bemühen, ein anständiger Mensch zu sein (Tugenden), als am Gottesdienst teilzunehmen und zu beten. Die Konfessionslosen erwarten das von den Kirchenmitgliedern noch eher. Die soziale Reichweite der Kirche bleibt gleich (Bekanntheit der Pfarrpersonen, soziale Einrichtungen), die religiöse sinkt. Kirche spielt immer noch eine wichtige zivilgesellschaftliche Rolle (ehrenamtliches Engagement der Kirchenmitglieder), stärkt dadurch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Kirche ist ein wichtiger Knotenpunkt in gesellschaftlichen Netzwerken, unabhängig davon, wie religiös oder nicht religiös die Gesprächspartner sind.

Dr. Tobias Kläden (KAMP) deutete die Ergebnisse als ambivalent: gleichzeitig Ernüchterung wie Ermutigung. Einerseits zeigt sich deutlich weitere Entkirchlichung und Verlust an religiöser Praxis und Relevanz, es gibt aber hohe Erwartungen, insbesondere im Blick auf innere Reformen etc.

Klädens Thesen:

  1. Religion ist offenbar keine anthropologische Konstante, eher ein kulturelles Phänomen.
  2. Optimierung kirchlicher Angebote/Organisation ist notwendig, aber nicht hinreichend.
  3. Pastorale Frustration: Es gibt kein kausales Verhältnis zwischen pastoraler Qualität und Grad der Religiosität.
  4. Dilemma: Kirche hat eine hohe soziale, aber geringe religiöse Reichweite.
  5. Welche Minderheit wollen wir sein: exklusiv oder inklusiv?

 

Im Teil III wurden die Ergebnisse mit Überlegungen zur Kirchentheorie/Ekklesiologie verbunden, was denn wohl für weitere Kirchenentwicklung hilfreich und leitend sein könnte.

Prof. Dr. Georg Lämmlin, der Direktor des SI, verwies auf die wachsende Komplexität und das Abbröckeln in kirchlichen Prozessen. Die Beteiligung am kirchlichen Leben zeige sich distanziert, nur Ostdeutschland mit höherer Beteiligungsquote (Ist das schon der „Heiliger Rest“, die zusammenhalten?). Lämmlin votierte für den Abschied vom Kirchenbild des 19. Jhd., eines staatlich geförderten Kirchentums, verbunden mit bestimmten Vorstellungen von Gottesdienst (Kanzelkirche mit Bankreihen), Predigt als Belehrung, Parochie, Familienbilder und Lebensordnungen. Daraus – so Lämmlin – treten die Leute aus! Die kirchliche Wirklichkeit sieht aber auch anders aus: interactional ritual, „Heimat schaffen“, Erlebnis und Atmosphäre schaffen, Impulse bekommen in einer guten Predigt. Zwischen dem institutionellen Arrangement der Kirche des 19. Jhd. und dem neuen Erleben bewegen sich derzeit die Versuche in der Transformation von Kirche in verschiedenen Clustern, die von Lämmlin wie folgt charakterisiert werden:

  1. Ethos der Nachhaltigkeit und Solidarität
  2. Kreuzesbotschaft und missionarische Gemeinschaft der Erlösten mit Bekenntnis
  3. Popkulturelles Christentum des Geistes in Kirche und Gesellschaft
  4. Nachbarschaft und Vernetzung im sozialen Raum
  5. Volkskirche 2.0: Anpassung kirchlicher Strukturen

In diese Kategorien sortierte Lämmlin auch die Fallbeispiele des ersten Teils jeweils ein. Es gibt für ihn das Szenario der Adaption oder der Innovation. Die notwendige Innovation beinhaltet:

  1. Zielgruppen- und Sozialraumorientierung
  2. Neue Formen gelebter Spiritualität im Alltag und „bei Gelegenheit“
  3. Lebensbegleitung
  4. Ein grundsätzlicher Modus des Erprobens
  5. Regionale Profilierung mit digitalen
  6. Multiprofessionalität
  7. Innovationsorientierte Finanzplanung

Das Problem: Innovation darf nicht nur im Sinne zeitlich befristeter Innovations-Inseln gestaltet werden, „Projekte“, die vom System dann weggesogen werden. Vielmehr sollten neue Sozialformen von Kirche als Kristallisationskerne für eine Innovationsbewegung der gesamten Organisation fungieren.

Dr. Martina Kreidler-Kos warb aus der Perspektive der Seelsorgeamtsleitung des Bistums Osnabrück für Optimismus und Hoffnung. Sie präsentierte 7 Einsichten, die für sie noch keine Umwälzung, aber Ermutigung zum Experimentieren darstellen. Für alles gilt: Identität zeigt sich in der Relevanz.

  1. Kirchenmitglieder nicht mehr insgesamt als „Gläubige“ bezeichnen (Es gibt einen „Lebensglauben“)!
  2. Auf die Lebensdienlichkeit der Kirche und des Glaubens achten!
  3. Positiv wirksam werden! (Aber auch damit leben, dass die entsprechenden kirchlichen Angebote weniger gefunden und ergriffen werden!)
  4. Reformen sind unerlässlich!
  5. Kinder- und Jugendarbeit als Priorität!
  6. Lebenspraktische Ökumene als Voraussetzung und Bedingung!
  7. Innovation ist mehr als ein add-on, die Schwester heißt Exnovation!

In einer abschließenden Plenumsphase der Teilnehmer:innen wurde deutlich: Abschiednehmen ist schwer, es braucht trotzdem weitere Versuche, Kirche neu zu gestalten und zu qualifizieren, auch wenn dies nicht heißt, dass Kirche in ihrer Gestalt und ihrer Praxis zu alten Bildern von vielen Mitgliedern, breiter Beteiligung und unhinterfragbarem Postulat von Relevanz zurückkehrt. Eine Weiterführung dieses ökumenischen Diskurses mit den drei veranstaltenden Einrichtungen stellt die geplante Tagung „Postparochiale Kirche“ dar, die mit dem Versicherer im Raum der Kirchen (VRK) 16.–18.6.2025 im Augustinerkloster in Erfurt stattfinden wird.

 

Hubertus Schönemann